„Ein paar Tage später bekam ich Grippe. Zumindest sah es so aus. Ich verbrachte meinen 55. Geburtstag im Bett und erinnere mich schwach, dass meine Freundin anrief. Dann hörte die Welt auf, für mich zu existieren.“
Zehn Woche später kommt sie wieder zu sich. In diesem Buch beschreibt Anita Cortesi eindrücklich ihre Zeit auf der Intensivstation, wie sie über Wochen vollständig gelähmt, jedoch bei Bewusstsein, künstlich beatmet wurde und ihr Leben sprichwörtlich an einem dünnen Schicksalsfaden hing. Tag für Tag holt sie sich in zähem Ringen wieder einen Teil zurück und schildert, wie ihr Geist auf das Eingesperrtsein in einem weitgehend gelähmten Körper reagiert.

Eigentlich wollte ich in diesem Buch beschreiben, wie man gehen lernt.
Ich dachte, ich würde dies in ein bis zwei Jahren erlernen, nicht zuletzt aufgrund vieler ärztlicher Aussagen. Ich wusste und weiß von Menschen, die wie ich am Guillain-Barré-Syndrom erkrankten und schließlich ohne Rollator wieder gehen konnten. Ich weiß aber auch von jemandem, der nach einer GBS-Erkrankung nicht mehr von der Beatmungsmaschine loskam und nach wenigen Jahren starb.
GBS kann man unterschiedlich stark bekommen, von ein paar kleinen Lähmungserscheinungen bis zum Tod. Trifft einen die Krankheit schwer, so kommt es sehr darauf an, wie schnell der krankhafte Zerstörungsprozess der Nerven gestoppt werden kann. Das Guillain-Barré-Syndrom ist wenig erforscht und lässt sich nicht nachweisen. Es können nur andere Erkrankungen, z.B. Tumore, durch Untersuchungen ausgeschlossen und so auf GBS geschlossen werden. Die Lähmungserscheinungen beginnen an Armen und Beinen und befallen schließlich auch den Rumpf und die Atemmuskulatur. Damit der Patient nicht erstickt, muss ein Luftröhrenschnitt vorgenommen werden, durch den Sauerstoff in die Lunge gepumpt werden kann.
An so einer Beatmungsmaschine hing ich etwa zehn Wochen lang. Mittlerweile weiß ich, dass ich zu den am stärksten in Mitleidenschaft gezogenen GBS-Patienten gehöre. Man hat mir gesagt, dass Herz und Nieren bei mir außergewöhnlich gut arbeiteten. Deshalb überlebte ich die Krankheit wohl. Und viele Menschen dachten an mich, beteten für mich und zündeten Kerzen für mich an. Ich sollte noch nicht sterben. Aber die Krankheit wütete in mir und ließ mich weitgehend die Nerven verlieren – im wahrsten Sinne des Wortes. Nicht nur die Hülle, die sogenannte Myelinschicht, wurde angegriffen, sondern viele Nerven gesamthaft zerstört. Die Lähmung wurde denn auch als axional bezeichnet, d.h. die Nerven waren nicht beschädigt, sondern zerstört. Sie wachsen zwar nach, aber niemand kann mir sagen, wie schnell.
Ich dachte, wie gesagt, es würde etwa ein oder zwei Jahre dauern, bis ich wieder würde gehen können. Nun sehe ich mich immer mehr vor die Tatsache gestellt, dass der Heilungsprozess sehr viel langsamer verläuft. Ich muss mich wohl damit abfinden, dass eine durchschnittliche Lebenserwartung nicht reicht, um wieder gesund zu werden, einfach weil der Heilungsprozess zu langsam verläuft. Ich muss der Tatsache ins Gesicht schauen, nie mehr Berge und Wald zu durchstreifen. Mein Leben ist jetzt anders. Die Sehnsucht nach dem Alten ist wie Ballast, den es abzuwerfen gilt. Der langen Rede kurzer Sinn: Ich will dieses Buch jetzt herausgeben, auch wenn ich noch lange nicht gehen kann. Ich will einen Eindruck vermitteln, was ein Schicksalsschlag bewirken kann, im Guten und im Schlechten.
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Helga Sobek 04.11.2018
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