Chirologische Aussagen 

Wenn man einem Menschen über seinen Charakter und seine Vergangenheit Zutreffendes sagt, das heißt Dinge, die er kontrollieren kann, so wird hierdurch eine suggestive Vertrauensbasis geschaffen. Wenn nun weiterhin negative Ereignisse vorausgesagt werden, so wird der Mensch auf diese prophezeiten Ereignisse fixiert. Durch die suggestive Empfänglichkeit stellen sich nämlich die gesamten Kräfte auf die Erwartung des negativen Ereignisses ein. Dadurch werden einerseits die gesunden Abwehrkräfte gelähmt, andererseits werden ihm die eventuellen Möglichkeiten, auszuweichen, innerlich genommen. Hieraus erklärt sich vielleicht das Eintreffen mancher katastrophalen Voraussagen, weil der Mensch durch die Ausschaltung seiner Abwehrkräfte und die bewusste oder unbewusste Konzentration auf das vermeintlich Unvermeidbare direkt hineingetrieben wird in die Katastrophe.

In diesem Zusammenhang sei nochmals auf das bereits im ersten Kapitel Erwähnte hingewiesen: Der normale Mensch bringt eine Vielfalt von Anlagen und damit auch verschiedene Einstellungsmöglichkeiten zu den Gegebenheiten und Ereignissen seines Lebens mit. Diese Vielfalt wird aber durch den Zusammenprall mit der Umwelt und anders gearteten Individualitäten, besonders mit denen aus dem Milieu, oft in eine einseitige Richtung und Auffassung gedrängt. Dadurch werden die Bewewungsfreiheit und damit gleichzeitig auch die Freiheit des Willens in der Stellungnahme zu den Ereignissen des Lebens behindert und eingeschränkt. Die Aufgabe des verantwortungsbewussten Beraters ist es nun, die Vielfalt, die ursprünglich vorhanden war, wieder zu entwickeln und dadurch die Willensfreiheit zu verstärken und zu fördern. Der Chiromant, der Zukunftsergebnisse voraussagt, tut aber das Gegenteil oder erreicht das Gegenteil: Die gesamten Kräfte des Menschen werden, wie schon ausgeführt, in eine einseitige, eng begrenzte Richtung gelenkt und dadurch die Bewegungs- und Willensfreiheit herabgesetzt oder ganz aufgehoben.

Aber nicht nur negative Voraussagen lähmen die Entwicklungskräfte, sondern auch die positiven. Sagen wir einem Menschen, dass er in kurzer Zeit einen großen äußeren Erfolg haben wird, so ist er meist geneigt, alle Arbeit an sich aufzugeben und unbeherrschter und unkontrollierter in seiner inneren und äußeren Lebensführung zu werden. Also auch hier läge eine Schädigung im entwicklungsmäßigen Sinne vor. 

Rein praktisch kann eine Voraussage auch nicht einmal mit relativer Sicherheit gemacht werden, weil sich die Linien und Zeichen der Innenhand verändern, d.h. es können Zeichen innerhalb kurzer oder längerer Zwischenräume verschwinden oder neu auftreten. Dazu kommt, dass die Zeichen der Innenhand, aus denen der Wahrsager seine Schlüsse zieht, sich sowohl auf äußere Ereignisse als auch auf innere Vorgänge beziehen können. Der auf ausschließlich statische Erscheinungen eingestellte Wahrsager aber wird die genannten Zeichen in der Hauptsache auf äußere Ereignisse beziehen und dadurch den Ratsuchenden einseitig fixieren. Andererseits sind es gerade die inneren Vorgänge, bei denen das freie Walten der Kräfte eine große, positive Rolle spielt.

Dazu ist die ganze Einstellung der Zeit und der Einzelpersönlichkeit ohnehin so materialistisch betont, dass der gewissenhafte Chirologe, dem es doch darauf ankommen muss, dem Menschen einen Halt zu geben, hier nicht noch verschärfend eingreifen sollte. Denn das Problem vieler gestörter, unglücklicher und sich in Schwierigkeiten befindlicher Menschen liegt ja gerade darin, dass sie sich durch die Tendenz des ganzen Zeitgeistes in einer persönlichen Isolation befinden, die sie aus dieser verzweifelten Lage zum Charakterologen führt.
Sie stehen, ohne es manches Mal zu wissen, nicht im Einklang mit der Zeittendenz, sondern haben meist ein unklares Streben nach Erkenntnis und innerer Entwicklung. Die Voraussage von Zukunftsereignissen verschlimmert die Situation des Ratsuchenden, weil sie nicht aus seiner organischen Entwicklung erklärt wird, sondern ihn auf äußere Ereignisse fixiert. Die persönliche Isolation wird also verstärkt. Etwas anderes sind natürlich die Hinweise und Feststellungen, Entwicklungsmöglichkeiten sowie das Prognosestellen bei schwierigen, krankhaften oder psychopathischen Veranlagungen. In diesen Fällen wird aufgrund unveränderlicher Anzeichen und zu kontrollierenden Vorgängen ein Schluss auf die daraus resultierenden Möglichkeiten gezogen, während bei der Voraussage von Ereignissen mit all diesen Momenten nicht gerechnet wird.
Entscheidend für die Behandlung und richtige Bewertung dieser Frage ist letzten Endes die Persönlichkeit des Beraters. Es müsste prinzipiell die Forderung gestellt werden, dass derjenige, der sich mit Erziehung, Behandlung oder mit chirologischen Analysen von Kindern oder Erwachsenen befasst, sich selbst genau kennt und sich vor allen Dingen seiner Schwächen und unvollkommenen Seiten bewusst ist. Der verantwortungsbewusste Deuter muss sich frei wissen von Machttrieb, Sadismus oder einer aus Verbitterung stammenden prinzipiellen Negierung alles Bestehenden. Wie viele katastrophale Voraussagen werden aufgrund einer unbewussten sadistischen Note des Wahrsagers gemacht. Wie viele charakterkundliche Analysen mit einer ausgesprochen negativen Tendenz kommen zustande infolge der negativen Einstellung des Deutenden. Selbstverständlich soll und muss das Negative festgestellt werden, aber dies muss aus einer aufbauenden Tendenz kommen, da alle charakterkundlichen Betätigungen nur Berechtigung haben, wenn sie wegweisend zum positiven Aufbau führen.