
Neubeginn
Ich möchte meine Reise durch den Tierkreis mit Bildern und Geschichten zum Tierkreiszeichen Widder beginnen. Eines vorweg: Wenn jemand sagt »Ich bin ein Widder«, dann heißt das im Grunde nur, dass er im ersten Frühlingsmonat geboren ist. In diesem Zeitraum durchläuft die Sonne jenen Himmelsabschnitt, den wir Widder nennen. Über die anderen Planetenstände einschließlich des Mondes ist damit nichts ausgesagt. Umgekehrt kann man auch Widder-Einflüsse im Horoskop haben, wenn man nicht am Frühlingsbeginn geboren wurde, etwa durch den Stand des Mondes, der Venus oder des Mars oder durch den Stand des Aszendenten. Will man feststellen, in welchen Tierkreiszeichen sich diese befinden, braucht man ein individuelles Geburtshoroskop.
Ich beziehe mich hier auf das Urprinzip Widder, das sich nicht auf den Stand der Sonne reduzieren lässt. Jeder, dessen Horoskop eine starke Betonung dieses Tierkreiszeichens aufweist, kann sich davon angesprochen fühlen.
Der einfachste, direkteste Zugang zur Seele eines Tierkreiszeichens ist seine Entsprechung in der Natur. Die Widder-Seele, die Energie des Widder-Archetyps, kann man am besten nachvollziehen, indem man sich in die Stimmung der Natur im ersten Frühlingsmonat hineinversetzt. Nach unserer Definition betritt die Sonne den Himmelsabschnitt, den wir Widder nennen, zum Zeitpunkt der Frühlings-Tagundnachtgleiche. Die Energie der Natur ist geprägt von Aufbruch und neuer Geburt. Die Tagundnachtgleiche symbolisiert den Sieg des Lichten über die Finsternis, daher gibt es zahlreiche alte Zuordnungen, in denen als Leitmotiv des Widders der Held, der Sieger, der Krieger, der Pionier genannt wird. Unter dem Aspekt des Naturgeschehens hat das damit zu tun, dass bei Eintritt der Sonne ins Zeichen Widder der Tag wieder länger wird als die Nacht. Der Winter ist besiegt, und das Klischee vom »rücksichtslosen Widder« hängt mit dem Naturgeschehen insofern zusammen, als man im Frühling nicht sehnsüchtig auf den Winter zurückblickt, sondern sich freut, wie das neue Leben aufsteigt, wie die Pflanzen an die Erdoberfläche drängen, und den Blick nach vorne richtet.
Der Kopf
Es gibt ein Modell, nach dem jedes Tierkreiszeichen eine Entsprechung im menschlichen Körper hat. Für Widder ist es der Kopf, der in diesem Zusammenhang weniger für das Denken steht als für das Thema Geburt. Mit dem Kopf kommt in der Regel ein kleines Baby durch den Geburtskanal, und das ist der erste große Sieg des Lichten über die Finsternis für uns Menschen. Studien über Geburt und Tod haben ergeben, dass der Geburtsvorgang von einem kleinen Wesen als absolute Herausforderung erlebt wird. Wenn ein kleines Kind sich schließlich durch den Geburtskanal, diesen Tunnel, hindurchgekämpft hat und das Licht der Welt erblickt, dann hat es den ersten großen Kampf in seinem Leben gewonnen.
Geburt hat aber auch noch einen anderen Aspekt, den der schmerzhaften Trennung, des Ausgestoßenwerdens. Aus dieser Symbolik ergibt sich die Aufgabe eines Widder-betonten Menschen: für neue Geburten sorgen, Pionier sein, das Alte, das dem Leben nicht mehr dient, mit dem Schwert der Trennung abschneiden. Auch die Geburt ist in gewisser Weise eine Ent-Scheidung, und diese erste Trennung ist ein Symbol für viele weitere Entscheidungen und Geburten im späteren Leben, die notwendig sind, damit wir lebendig bleiben, damit wir nicht versteinern. Es geht hier auch um Abschied, denn der erste große Abschied, den wir erfahren, ist die Geburt. Widder sein heißt deshalb immer auch, »abschiedlich« zu leben, zu wissen, dass es im Leben - in unterschiedlichen Formen - immer wieder um Aufbruch geht.
Therapeutische Erfahrungen zeigen übrigens Parallelen auf zwischen dem ersten Abschied, der Geburt, und späteren: Menschen, die zum Beispiel im Taxi geboren wurden, es eilig hatten bei der Geburt, trennen sich in der Regel auch im späteren Leben schneller als »übertragene« Kinder oder Zangengeburten.
Im Märchen gibt es den so genannten »heiligen Frühling«, den Moment, in dem der Held sein altes Reich verlassen muss. Das alte Königreich steht für das Reich des Vertrauten, des bereits Bewussten. Jung hat gesagt, was lange bewusst ist, wird schal und unlebendig, wie der alte, graue König am Anfang eines Märchens, dem das Wasser des Lebens fehlt. Der Impuls, der neues Leben bringt, befindet sich immer im Universum nebenan, in der anderen, unbekannten Welt, deswegen müssen die Helden im Märchen ins Unbekannte, ins Neuland gehen, mit aller Angst und Lust, die das mit sich bringt. Das muss nicht eine Reise nach Australien bedeuten, es kann auch ein Aufbruch in geistiges Neuland sein. Kein Zeichen weiß so viel von diesem Abschied, der immer wieder erfolgen muss, wie Widder. Diese Energie ist nicht dazu geeignet, Burgen zu bauen und Wurzeln zu schlagen (dieser Impuls dominiert im folgenden Tierkreiszeichen Stier).
Der Pionier
Ein Begriff aus dem Zen-Buddhismus erscheint mir besonders geeignet, um Widder-Weisheit zu formulieren: Der Anfängergeist, der unterschieden wird vom Geist des Experten. Der Anfängergeist entspricht einer Lebenshaltung, die jeden Moment so angeht, als hätte man keine Erfahrung, als wäre man ein unschuldiges, neugeborenes Kind. Der Expertengeist hingegen ist das, was wir alle mehr oder weniger gut beherrschen: Wir hören, was wir wissen, und wir sehen, was wir wissen, und alles, was uns eigentlich neu berühren könnte, wird in alte Erfahrungsschubladen gesteckt. Jemand, der diese Widder-Weisheit im Comic verkörpert, ist Hägar der Schreckliche, der das Pech hat, als kriegerischer Wikinger einen Sohn zu haben, der ständig Bücher liest und ausgerechnet Hamlet heißt. In einer dieser Geschichten ertappt er seinen Sohn wieder einmal beim Bücherlesen und sagt die wunderbaren Worte zu ihm: »Pass mal auf, mein Lieber, du brauchst nicht zu glauben, dass dein Bücherwissen dich irgendwie weiterbringt, weil: Unwissenheit ist die Mutter aller Abenteuer.« Das könnte ein Widder-Leitsatz sein.
Noch ein Wort zur Entscheidung, die ein zentraler Begriff der Widder-Philosophie ist. Sie steht für die Fähigkeit und Notwendigkeit, das trennende Schwert zu gebrauchen, entweder - oder zu sagen, Polaritäten zu akzeptieren, auch selbst zu polarisieren. Don Juan, der alte Schamane und Lehrmeister von Carlos Castaneda, sagt: »Ein Krieger trifft eine Entscheidung und akzeptiert dann, was passiert.« Ein sehr einfacher und sehr tiefer Satz. Der Krieger ist überhaupt nicht negativ zu verstehen, er symbolisiert einen Menschen, der mit aller Entschiedenheit das tut, was sein Herz ihm sagt. Eine Entscheidung zu treffen, deren Konsequenzen nicht abzusehen sind, nicht im Sinne einer Um-zu-Haltung oder einer Kosten-Nutzen-Kalkulation, das ist Widder-Qualität. Wenn ich weiß, was eine Entscheidung für Konsequenzen hat, tue ich mich leicht.
Die Unschuld, die den Widder so stark kennzeichnet, und seine Affinität zu unbekannten Situationen passen sehr gut zu der Haltung, wie sie Don Juan formuliert hat. Der weise Widder akzeptiert die Folgen seiner Entscheidung, wie auch immer sie ausfallen mögen. Wenn er mit seinem Job unzufrieden ist, wartet er nicht, bis er sicher sein kann, einen besseren oder einen mindestens gleich guten Job zu finden. Wenn sein Herz ihm sagt, dass diese Arbeit nicht die richtige ist, dann macht er sie einfach nicht mehr. Vielleicht wird er lange Zeit keinen Job finden oder schon übermorgen einen besseren, wer weiß das schon. Die Widder-Haltung kommt aus der Entschiedenheit des Herzens, des eigenen, tieferen Wollens: »Ich will« ist sein Leitsatz.
Ich las einmal von der Begegnung eines Psychologen mit einem Fischer an einem kalifornischen Strand. Als der Fischer vernahm, dass sein Gegenüber Psychologe sei, lachte er schallend und meinte: »An mir könntest du keinen Cent verdienen!« Der Psychologe fragte, warum. »Weil ich der glücklichste Mensch der Welt bin«, war die Antwort. »Wieso?« - »Ganz einfach: Ich habe mein Leben lang nur das getan, was ich wollte. Hatte zum Beispiel eine Kneipe meine Biersorte nicht, bin ich eben in eine andere gegangen, die meine Biersorte hatte.«
Das Widder-Symbol
Auf den ersten Blick scheint das Symbol für Widder Hörner darzustellen. Ursprünglich ist es jedoch aus einer alten Rune entstanden, einem Strich mit zwei nach oben gestreckten Armen, und dieser Mann mit erhobenen Armen, diese so genannte Mahn-Rune, bedeutet so viel wie Geburt, Osten, aufsteigendes Leben. Wir finden also auch hier wieder eine Entsprechung zum Naturgeschehen. Der Widder als Tier steht ja nicht deswegen mit dem Jahreszeitenabschnitt in Verbindung, weil das Sternbild Widder die Form eines Widders hätte, sondern weil die Energie dieses Tieres die Aufbruchsstimmung der Natur besonders gut wiedergibt.
Der Bursche, der sich vor nichts fürchtet
Ein Märchen, das sehr viele, auch sehr tief gehende Widder-Motive enthält, ist Der Bursche, der sich vor nichts fürchtet. Das ist ein norwegisches Märchen, aber davon gibt es mehrere Versionen. Eine bei uns bekannte ist das Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen. Die Aussage dieser Geschichten ist immer dieselbe: Es ist unmenschlich, keine Furcht zu kennen. Man sagt ja auch, wahre Tapferkeit setzt Angst voraus, sonst ist es Naivität oder Dummheit.
Der Bursche in diesem Märchen wird dem ganzen Dorf unheimlich, weil er sich vor nichts gruselt, und deswegen wird er fortgejagt. Auf seiner Reise durch die Welt besteht er unglaubliche Abenteuer. Er gerät zum Beispiel in eine Art Spukschloss, wo nachts die Teile eines Gespensts durch den Kamin kommen, doch dieses Gespenst, das da in drei Teilen vor ihm liegt, macht ihm überhaupt keine Angst. Er sagt nur: »Komm, setz dich mal zusammen, tu irgendwas, mir ist langweilig.« Danach kämpft er mit dem Gespenst und gewinnt. Erst gegen Ende der Geschichte kommt er in die entscheidende Situation. Er hat Freunde gefunden, die in den Bergen wohnen, und sie müssen jeden Tag gegen fremde Krieger kämpfen, die, auch wenn sie getötet werden, am nächsten Morgen wieder lebendig sind. So beginnt der »Kampf ums Dasein«, von dem Charles Darwin sprach, jeden Tag aufs Neue. Der Bursche findet schließlich heraus, was es damit auf sich hat: Wenn die getöteten Krieger nachts mit abgeschlagenen Köpfen auf dem Schlachtfeld liegen, kommt eine Fee aus einem Hügel. Sie bestreicht die Rümpfe der getöteten Krieger mit einer Zaubersalbe und setzt ihnen dann die Köpfe wieder auf. Der Bursche tötet die Fee, nimmt die Salbe an sich, und nun können die feindlichen Krieger endgültig unschädlich gemacht werden. Aber da wird es den Kumpanen langweilig, und aus purem Übermut kommen sie auf die Idee, mit der Zaubersalbe zu spielen, indem sie sich gegenseitig die Köpfe abschlagen und wieder aufsetzen. Das ist ungeheuerlich: Mit dem Tod ein solches Spiel zu veranstalten ist eine völlig unreife Haltung der Vergänglichkeit gegenüber. Sie schlagen sich also munter die Köpfe ab und setzen sie wieder auf, und dann passiert das Drama. Man setzt dem Burschen aus Versehen den Kopf falsch herum auf, und als er das erste Mal sein Hinterteil erblickt, da überkommt ihn das große Grauen: Er hat zum ersten Mal Angst - damit ist die Geschichte zu Ende.
Was bedeutet »sein Hinterteil sehen« symbolisch? Es ist die Rück-Sicht. Woher kommen wir? Aus dem Leib der Mutter, aus dem Reich des großen Weiblichen. Das große Weibliche hat wie alles zwei Seiten: Einerseits ist es Leben spendend, auf der anderen Seite hat es den Aspekt der Todesmutter. Die Nacht ist die Leben spendende Mutter, die jeden Morgen das Tageslicht aus ihrem Bauch entlässt, doch jeden Abend kommt sie als schreckliche dunkle Mutter zurück und frisst das Tageslicht wieder auf. Diese Sichtweise findet sich bei vielen Naturvölkern. Wir werden aus dem Leib der Mutter geboren, und wenn wir sterben, kehren wir zur Mutter Erde zurück. Da Widder den Monat der neuen Geburt symbolisiert, ist die Vorstellung von Vergänglichkeit seiner Weltsicht völlig fremd. Zur Ganzheit gehört jedoch genau dieser Gegenpol: Der Widder-Held, egal ob er in einem Mann oder in einer Frau wohnt, muss den Gegenaspekt von Vergänglichkeit akzeptieren, er muss »Rücksicht« erfahren.
Ein anderes großes Thema in diesem ausgesprochen männlichen Märchen ist der Umgang mit der Fee. Unser Held tötet die Fee, ohne sich überhaupt mit ihr zu beschäftigen, das heißt, die ausgesprochen männliche, marsische Haltung des Widder-Prinzips ist dem Weiblichen gegenüber völlig ignorant. So ist zum Beispiel auch Jason aus der griechischen Mythologie ein Widder-Held. Jason, der das goldene Vlies - übrigens ein Widder-Fell - erobert hat. Dazu bediente er sich des Weiblichen, nämlich der Hilfe von Medea, der gegenüber er sich nach vollbrachter Tat undankbar und rücksichtslos verhielt, indem er sie betrog und verließ. Das war der Auslöser für das große Drama, bei dem Medea zur Rächerin wurde.
Da Widder symbolisch ein urmännliches Prinzip ist, das allerdings genauso gut in Frauen leben kann, besteht für Widder die große Gefahr, mit dem Weiblichen so umzugehen, wie es der Bursche in unserem Märchen tut und wie Jason es getan hat. Ignoriert man das große Weibliche, sei es in einer Beziehung, sei es im Umgang mit dem Unbewussten, dann kann es zur Rachegöttin werden.
Kollektiv ist hier auch der rücksichtslose Umgang mit Mutter Erde, mit der Natur, ein Thema. Wir machen uns die Erde untertan, anstatt im Einklang mit ihr zu leben, und provozieren so ihre Rache, zum Beispiel in Form von Naturkatastrophen.
Die roten Schuhe
Wir leben in einer Kultur, in der es bis vor wenigen Generationen noch üblich war, Kindern den Willen zu brechen. In den Handbüchern der schwarzen Pädagogik war zu lesen, dass der Eigenwille die schlimmste und negativste Eigenschaft eines Kindes sei und dass vernünftige Eltern die Pflicht hätten, ihn so früh wie möglich zu brechen. Das Motiv des gebrochenen Willens ist für ein kleines Widder-Kind besonders dramatisch. Als kleines Kind ist man sehr lange abhängig von Vater und Mutter; wenn die Mutter ihr Kind nicht nährt und liebt, ist das wie ein Todesurteil. Für die freiheitsliebenden Widder-Kinder ist allein schon die Abhängigkeit von den Eltern eine ständige Quelle der Ohnmacht. In unserer deutschen Tradition, speziell in der preußischen, die das Prinzip des gebrochenen Willens verherrlichte, finden wir in den Generationen unserer Eltern, Großeltern und Urgroßeltern viele Widder, denen man »die Hörner gestutzt hat«. In ganz besonderem Maße haben Frauen diese Frustration erlebt.
Damit kommen wir zu dem Märchen Die roten Schuhe. (Ich würde übrigens allen Widder-betonten Frauen ans Herz legen, das Buch Die Wolfsfrau zu lesen, und zwar speziell das Kapitel, in dem das Märchen von den roten Schuhen behandelt wird.) In diesem Märchen geht es um ein kleines Mädchen, ein wildes Naturkind, das materiell sehr arm ist, sich aber reich fühlt, weil es sich selbst - wohlgemerkt selbst - aus irgendwelchen Fetzen rote Schuhe gemacht hat. Symbolisch gesehen hat es sich eine Lebenshaltung zurechtgezimmert, die der Farbe Rot entspricht, der Farbe von Mars und Widder, der Farbe des Eigenwillens, des Blutes, der Leidenschaft. Dann passiert das, was in der Erziehung vieler Widder-Mädchen immer wieder passiert: Eine Kutsche mit einer feinen Dame fährt vorbei, und diese Dame verkörpert all das, was wir Konvention nennen, somit auch ein Stück »Mutter Kirche«. Die Dame erblickt voller Entsetzen das verwilderte Naturkind und lässt es in die Kutsche laden. Sie nimmt es mit nach Hause, und dort werden zunächst die roten Schuhe verbrannt. Das Mädchen wird herausgeputzt, zum Püppchen gemacht, in weiße Kleidchen gesteckt. Man könnte sagen, es wird zum Marienkind gemacht, denn Weiß ist bekanntlich die Farbe der Maria, der Unschuld.
Dieses kleine Mädchen, ich nenne es jetzt einfach mal das »Widder-Mädchen«, verliert aber die Sehnsucht nach seinen roten Schuhen nicht und besorgt sich heimlich bei einem Schuster Ersatzschuhe. Eines Tages geht sie mit diesen Schuhen in die Kirche. Und auf einmal hört kein Mensch mehr dem Pfarrer zu, die Heiligenbilder an den Wänden wackeln entsetzt, und alle starren wie gebannt auf die roten Schuhe. Auch das Mädchen selbst ist ganz verliebt in die roten Schuhe und kann überhaupt nicht mehr weggucken. Sofort wird der feinen Dame gemeldet, was das böse Kind angestellt hat. Das Mädchen wird geschimpft und gedemütigt, die roten Schuhe werden ihr wieder weggenommen und versteckt. Aber immer wieder findet sie sie und zieht sie heimlich an, sie ist wie besessen davon. Schließlich passiert das Drama: Die Schuhe beginnen mit ihr zu tanzen, und sie kann nicht mehr aufhören, bis sie in ihrer abgrundtiefen Erschöpfung zum Haus des Scharfrichters tanzt, der ihr die Füße abschlägt. Die Füße tanzen dann in den Wald und verschwinden mitsamt den Schuhen. Man könnte sagen, das Mädchen ist für sein Lebtag bestraft, nach dem Motto »Übermut tut selten gut«.
Genau das passiert symbolisch gesehen immer wieder mit vielen Widder-Mädchen, ganz gleich, ob sie beispielsweise Widder-Mond oder Widder-Sonne haben. Ich spreche hier von allen Frauen und Mädchen, die von diesem Archetyp stark beeinflusst sind. Dieses Frauenbild hat in unserer Kultur ganz einfach keinen Platz, und in der Mutter Kirche sowieso nicht. Die einzige »Göttin«, die in der christlichen Kirche Platz hat, ist keine rote Göttin, sondern eine weiße Göttin, Maria - die Frau ohne Unterleib, wenn man es drastisch ausdrücken will. Ihre Hexenschwester, die vitale, kräftige, mächtige Seite des Weiblichen, haben wir auf den Scheiterhaufen gepackt, und das ist für wilde Mädchen, wie Widder-Mädchen es von der Anlage her sind, verhängnisvoll. Heute noch gibt es viele depressive Widder-betonte Frauen, die ihre Kraft gar nicht kennen und sehr früh schon gelernt haben, dass sie nur dann überleben können, wenn sie Kreide fressen, wenn sie ganz nett und brav werden, weiße Kleidchen tragen und zu Marienkindern werden. Ihre wilde Seite, den inneren Tiger, die innere Wölfin, haben sie schon lange vergessen oder vielleicht auch nie kennen gelernt. Ich habe von vielen Frauen mit Widder-Energie gehört: Dieses Märchen, das ist mein Leben. Als ich ein kleines Mädchen war, drei, vier oder fünf Jahre alt, da hatte ich diese Kraft noch. Damals hatte ich keine Lust, mit Puppen zu spielen, da war ich im Dschungel, habe mit den Jungs gespielt, bin mit blutenden Knien nach Hause gekommen, und es war immer aufregend und spannend. Wenn ich Kindheitsfotos anschaue, dann ist irgendwann, mit sieben, acht, neun Jahren, spätestens in der Pubertät, diese Energie weg, dann sehe ich blass und unglücklich und gehemmt aus. Dann sind die roten Schuhe verbrannt worden.
Clarissa Pinkola Estés, die das Buch Die Wolfsfrau geschrieben hat, richtet deshalb den Appell an die Frauen, die von diesem Thema betroffen sind: Macht euch euer zweites Paar rote Schuhe selbst, findet zurück zu dieser Autonomie, zur Amazonenkraft, zur Energie der Wolfsfrau. Das ist eine sehr wichtige Botschaft, die nur bedingt mit dem Horoskop zu tun hat, sondern sich auf unsere traditionellen Rollenvorstellungen, unsere kulturellen Vorgaben bezieht.
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Simone Stein 15.07.2025
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