Die Ärzte: arrogant, unnahbar, dilettantisch. Die Patienten: wehrlos. Ob sie an einen Quacksalber oder eine Koryphäe geraten sind, wissen Patienten erst, wenn es zu spät ist.Der Arzt und Medizinjournalist Werner Bartens weiß aus eigener Erfahrung, wie es in den Praxen und Krankenhäusern zugeht: Zu viele Technokraten und Versager verbergen sich unter dem weißen Kittel. Schonungslos berichtet er von Größenwahn, Pfusch und Ignoranz. Seine Diagnose: Wir sollten aufhören, nur über die Kosten des Gesundheitswesens zu reden, und uns endlich wieder auf das Wesentliche konzentrieren – auf die Bedürfnisse der Menschen, die Hilfe beim Arzt suchen.
Werner Bartens, Jahrgang 1966, ist Arzt, Historiker und Hypochonder. Er studierte Medizin, Geschichte und Germanistik und war als Arzt an den Unikliniken Freiburg und Würzburg tätig; Forschungsaufenthalte in den USA und am Max-Planck-Institut für Immunbiologie. Heute ist er Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung und freier Schriftsteller. |
Selbstdiagnose Es ist eine seltsame Art der Verrohung, eine stetig anschwellende Gefühllosigkeit, die angehende Doktoren während der Verwandlung vom idealistischen Novizen im Medizinstudium zum abgebrühten Assistenzarzt durchmachen. Nur wenige behalten ihre offene, menschenfreundliche Art bei. Es ist offenbar schwer, sich angesichts all des Leidens, über das man als Mediziner liest, das man sieht und aus nächster Nähe erfährt, das Gespür für die Nöte und Ängste der Kranken zu bewahren oder es gar weiterzuentwickeln. Dabei sind es im Umgang mit Patienten in erster Linie diese Empfindsamkeit und dieses Einfühlungsvermögen, auf die es ankommt.Die Patientin war Mitte Sechzig, eine Winzerfrau aus einem weithin für seinen guten Wein bekannten Ort. Sie litt an einer Zuckerkrankheit, die schlecht eingestellt war, das heißt, ihr Blutzucker schwankte extrem und brachte die Patientin immer wieder an den Rand der Bewusstlosigkeit. Akut war die Dame wegen einer Thrombose stationär aufgenommen worden und befand sich längst wieder auf dem Weg der Besserung. Ich war – neben zwei anderen Medizinern auf unserer Station – als junger Assistenzarzt mit für sie zuständig. Sie hatte offenbar Vertrauen zu mir gefasst, denn sie fragte mich immer wieder, wie es um sie stünde und denn nun mit ihr weiterginge.Eines Tages fühlte sich die Patientin nicht so wohl. Es ging ihr nicht gut, ihr war schlecht und auch ein bisschen schwindelig.Aber weder ihre Blutwerte noch andere Untersuchungsbefunde deuteten darauf hin, dass ein Rückfall zu befürchten war oder sich ein neues Leiden ankündigte. Ihrer baldigen Entlassung stand nichts im Weg. Doch als ich eines Tages in ihrem Zimmer vorbeischaute, fragte mich die Patientin: »Herr Doktor, muss ich sterben?«Sie litt, sie war innerlich aufgewühlt, und sie war sichtlich beunruhigt. Ich sagte nur beiläufi g: »Sterben müssen wir alle mal.«Das fand ich wahrscheinlich cool und angesichts der oft unvorhersehbaren Krankheitsverläufe und Schicksalsschläge, mit denen man es in der Medizin oft zu tun hat, angemessen und auf gewisse Weise sogar originell.Um Coolness geht es in der Medizin aber nie. Wie leicht wäre es für mich gewesen, mich an die Bettkante der Frau zu setzen, ein paar tröstende Worte zu sagen und ihr den Glauben und die Zuversicht zu vermitteln, dass sie schon bald wieder nach Hause würde zurückkehren können. Sie würde gesund entlassen werden, und es gab keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Stattdessen kam ein lakonischer Spruch von mir.Immerhin entschuldigte ich mich ein paar Tage später verdruckst bei der Patientin für mein wenig mitfühlendes Verhalten. Sie sagte, dass sie meine Worte schon längst wieder vergessen hätte. Mir ging es anders.Als sie eine Woche darauf tatsächlich aus der Klinik entlassen wurde, beschämte sie mich, indem sie sich besonders herzlich und mit einem beachtlichen Weinkontingent für meine Zuneigung, Hilfe und Unterstützung bedankte.Das konnte so nicht weitergehen. Was war da mit mir passiert?Ich war grob und unsensibel mit der Patientin umgegangen, hatte sie nicht verstanden, nicht mal zu verstehen versucht. Mir war sonnenklar gewesen, dass sie sich auf dem besten Weg zur Genesung befand und ihrer baldigen Entlassung aus medizinischer Sicht nichts im Weg stand. Sie hingegen machte sich große Sorgen. Sie konnte nicht einschätzen, was ihr verändertes Befinden zu bedeuten hatte, merkte aber, dass es ihr nicht gut ging. Und sie hatte Angst, offenbar sogar Todesangst. Das war nicht ich gewesen, der so mit der Patientin umsprang.Und natürlich war ich es doch beziehungsweise der Teil von mir, den die Zeit in der Klinik immer stärker zum Vorschein gebracht hatte. Ich war auf dem besten Wege, abzustumpfen und unempfindlich zu werden gegenüber den Bedürfnissen der Patienten. Hatte ich früher alte Menschen gemocht, wurden sie in der Klinik plötzlich zur Bedrohung, wenn sie krank wurden und ständig etwas forderten. Patienten begannen, lästig zu werden, Angehörige sowieso. Ich wollte ihnen immer häufiger aus dem Weg gehen in der Klinik und begann sogar über die schlechten Witze zu lachen, die immer wieder von den Ärzten über die Kranken gemacht wurden.Ich sah die anderen Assistenzärzte um mich herum, die Oberärzte und Chefärzte, von denen sich viele zynisch und gefühlskalt gaben. Sie wurden oberflächlicher, wenn sie Hilfe und Unterstützung brauchten. Sie pflegten ihren Sarkasmus und ihre Sticheleien gegenüber Kollegen und Patienten, anstatt ehrlich zu sich und den anderen zu sein und darüber zu reden, wie überfordert und ausgebrannt sie sich immer wieder fühlten und dass sie manchmal einfach nicht mehr konnten. Wann immer es möglich war, vermieden sie den Patientenkontakt. Manche waren in den Alkohol geflüchtet, andere in die Forschung oder in Affären.Was war da los? Hatten sie diese Haltung aus Selbstschutz im Krankenhaus entwickelt? War es Ausdruck ihrer Anspannung und Überlastung? Mir war das irgendwann egal. Ich wusste nur: So wollte ich nicht werden, das konnte es nicht sein. Es musste dringend etwas passieren.Mir fielen nicht nur meine eigenen Erfahrungen ein, die ich als Patient mit Ärzten gemacht hatte, sondern auch die zahlreichen Erlebnisse, die mich während meiner Arztwerdung im Studium und im Beruf irritiert, verstört und verletzt hatten. Manche dieser Erinnerungen bezogen sich auf extreme Vorfälle, die meisten schienen jedoch typisch zu sein und sich in Variationen immer und immer wieder zu wiederholen: die Erniedrigung und Entwürdigung der Patienten, die fehlende Anteilnahme und das so wenig ausgeprägte Mitgefühl. Die Arroganz der Ärzte, ihre fehlende Zeit und das Unvermögen, hinter den geschilderten Beschwerden die wirklichen Notlagen der Kranken und Hilfesuchenden zu erkennen.Viele dieser Geschichten habe ich hier aufgeschrieben.Die meisten habe ich selbst erlebt, andere nach den Schilderungen der unmittelbar Betroffenen dargestellt. Sie geben einen Eindruck davon, woran es mangelte, was mir bitter aufstieß. Vielleicht geben sie auch ein paar Hinweise darauf, woran es in unserem Gesundheitswesen in erster Linie mangelt.Was ich an mir selbst während meiner Zeit in der Klinik immer häufiger beobachtete und von den Ärzten um mich herum in aller Deutlichkeit vorgeführt bekam, schreckte mich ab. So wollte ich nicht sein, so wollte ich nicht werden.Ich spürte, dass ich auf Dauer nicht als Arzt im Krankenhaus und auch nicht in der Praxis würde arbeiten können, dass dann zu vieles bedroht wurde, was mir wichtig war, und ich ernsthaft Schaden nehmen könnte. So nebensächlich die Erfahrung mit der Winzerfrau erscheinen mag, bald nach meiner verfehlten Antwort auf ihre Frage ahnte ich, dass ich in nicht allzu ferner Zeit den Beruf wechseln würde.Ein paar Monate später habe ich gekündigt. Ich habe diesen Entschluss nie bereut. Den letzten Anstoß, dass dies die richtige Entscheidung war, bekam ich durch die Reaktion der ärztlichen Kollegen, mit denen ich zuletzt im Krankenhaus zu tun hatte. Einige von ihnen sagten mit wehmütigem Blick zu mir: »Du hast es gut. Ich würde ja auch etwas anderes machen, wenn ich eine Alternative hätte.«
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